Alles fliesst

Aqua Rusila πάντα ῥεῖ

Komposition von Urs Wüthrich in zwölf Sätzen

I. Prolog

Der warme Klang einer Klarinette stellt in acht Takten das Motiv der Reuss vor. Dieses wird sich im Werk noch mehrmals zeigen.

II. Animatina

Im Animismus sind Zauber und Dämonenglauben beheimatet. Die magische Morgensonne geht auf über dem Urner Gebirge. Sie zieht die schwangeren Wolken nach oben. Die Tropfen fallen, versickern im Boden und werden dort zum Elixier von neuem Leben.

III. Rusa

Kleine, selbstständige Quellen sprudeln fast unbemerkt in der Geburtsregion von weiteren Geschwistern, den Flüssen Rhein, Rhone und Ticino. Dieses Fruchtwasser wird nach der Geburt als klares Bergwasser zum Ursprung der jungen Reuss. Eine solistische Harfe schildert diese Idylle.

IV. Ursa

Parallel zur zunehmenden Wassermenge nimmt die Anzahl der Instrumente zu. Aus den Tälern von Furka, Gotthard, Oberalp und Unteralp vereint sich im Urserental ein Forellenquartett von vier Streichern. Dieses verlässt das magische Quellenquadrat und formt einen Ring. Er verbündet sich mit der ehernen Freiheit im Ring zu Ursern und Uri, symbolisiert auch im Nasenring des Uristiers.

V. Tango Diabolo

Ein Zweckbündnis führt in Andermatt zum Tanz mit dem Teufel, einem erotischen und verführerischen Tango des Bläseroktetts. Mit Arglist, Betrug und Hinterlist soll die Schöllenen bezwungen werden. Der Zweck heiligt die Mittel

VI. Scalina

In der Schöllenenschlucht (Scalina = Treppe) trifft das Böse auf das Unschuldige und reisst die Tugend in den Abgrund. Mit Feuer stürzt sich das Wasser über die Felsen, im tosenden Gebläse des Windes. Die acht Bläser aus verschiedenen Lagern gruppieren sich zum Kampf gegen die Elemente, darunter zwei Hörner. Mit Hilfe des Gehörnten gelingt es, eine Brücke über die Schlucht zu bauen.

VII. Saxum

Eine List und ein Kreuz treiben den Teufel zurück zur Hölle. Das Bergvolk feiert ausgelassen. Zu früh, wie beim historischen Tanz mit dem Landammann? Mit Schalmeienklängen meldet sich der Baumeister zurück, erstellt Tunnels für Strasse und Bahn, baut Resorts und Liftanlagen. Doch wer weiss, vielleicht sind die Bewohner von Uri wiederum schlauer als er. Sie haben zwar noch keine Berge versetzt, aber immerhin schon den Teufelsstein verschoben.

VIII Casinotta

In Göschenen stossen neue Wasser zur Reuss. Gebändigt und zurückgehalten hinter den Mauern der Seitentäler durchstossen Adern in Felsen den Granit. Kristallklüfte sind die Schatzkammern der steinigen Landschaft. Im kleinen Liebeswalzer spiegelt sich das Eis des Dammagletschers in den Moorseelein der Brätschenflue. Wacholder, Birken und Legföhren säumen die Bergwege. Doch das Wasser wird in der Druckleitung an die Kandarre genommen

IX. Sila

Grosse Löcher ebnen den Gleisen, den Vehikeln und den Sprachen den Weg. Tal und Fluss ändern ihren Namen. Rusa und Ursa sind inkognito als Sila im Oberland angekommen. Vorbei an den Kirchen von Wassen und Gurtnellen streben die Wasser der Ebene zu. Das Meiental, das Gornerental, das Fellital und das Kärstelental können aufatmen. Madran hat das Gold und das Eisen bereits geholt. Die Strasse nach Bristen stürzte ab, die Bahn suchte in einer neuen Alpentransversale das Weite.

X. Carnevale

Fasnachtsnachtsprinz Elvelinus feiert in Ursern die Zeit ausser der Zeit mit Woldmanndli und Treicheln. Im Unterland verstecken wilde Drapolinge mit Schellen und Plätzchen ihre Gesichter hinter alten Strümpfen. Ihr Tanz wird zur gelebten Lustbarkeit des Orchesters, zum Freiraum in der Enge der Gebote und den Gesetzen der Obrigkeit. Heute, am 11.11. um 11:11 Uhr beginnt im germanischen Raum die Fasnacht. Die magische Zahl 11 symbolisiert, dass sich König und Narr in dieser Zeit ebenbürtig sind.

XI. Delta

Das Land wird flacher, der Fluss breiter und tiefer. Das Deltadreieck erwartet Nachschub. Was die Reuss nicht transportieren kann, wird auf Förderbändern und mit Klappschiffen in den Urnersee geschüttet. Inselträume werden wahr. Wanderer entdecken die Natur auf dem Weg der Schweiz. Es lächelt der See, doch die Idylle ist trügerisch. Bald kämpfen Bise und Föhn um die Urner Vorherrschaft. Ein patriotisches Hoch dem Rütli, vorbei an Luzern und Basel, dem Atlantik entgegen.

XII. Epilog

Die keltischen Goldringe mutieren zu Regenbögen, welche dem flüchtigen Reusswasser und den Urnern in der Fremde den Weg zu ihrem Ursprung weisen. Hat Wasser ein Gedächtnis? Kehrt ein Tropfen je in seine Wolke zurück? Geheimnisse bleiben was sie sind, verschlossenes Wissen trotz offener Suche. Die wiederkehrende Melodie lässt selbst eine Wiedergeburt oder Auferstehung nicht ganz ausser Betracht.


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